„Echte Kreislaufwirtschaft funktioniert nicht mit linearen Denkmustern!“

In einem vielbeachteten Vortrag im Rahmen des IERC (International Electronics Recycling Congress) in Salzburg veranschaulichte Chris Slijkhuis im Jänner 2023 unter anderem den enormen administrativen Aufwand, den Unternehmen wie die Müller-Guttenbrunn Gruppe haben, um Klassifizierungen und Notifizierungen von Elektroschrott – kurz WEEE (Waste of Electric and Electronic Equipment) – bei der Verbringung innerhalb oder außerhalb der EU vorzunehmen. Seine Conclusio: „Die E-Schrott-Klassifizierung ist zu komplex geworden!“

Bevor man in die Materie der E-Schrott-Klassifizierung eintaucht, muss man aber die rechtlichen Grundlagen in Europa beleuchten. Die Basis für eine Klassifizierung und Notifizierung von E-Schrott bilden zuerst die „Mutter der Regulierungen“ – die Basel-Liste (Annex VIII oder IX, wenn anwendbar), des Weiteren die „Tochter“ – die OECD-Liste, die sich von Basel unterscheidet, und der „Sohn“ – die EU-Verbringungsverordnung sowie die EU-Abfallcodes. Zu diesen internationalen Vorgaben führen viele Staaten zusätzlich Klassifizierungen nach eigenen Abfallschlüsseln für das jeweilige Export- und Importland durch, die das Procedere weiter verkomplizieren. In diesem Zusammenhang kommen dann auch noch Y-Codes, H-Codes, UN-Codes, UN-Classes, UN-Numbers, UN-Shipping Names und Customs-Codes ins Spiel. „Es ist einfach irre, wie kompliziert es geworden ist, einen LKW mit E-Schrott-Material einzuordnen“, berichtet Slijkhuis aus der Praxis.

Die Analyse von E-Schrott auf Gefährlichkeit ist defacto unmöglich geworden!

Als extrem komplex und geradezu unmöglich erachtet der MGG-Experte dabei die Unterscheidung von gefährlichen und nicht-gefährlichen Abfällen laut europäischen Vorgaben. Die SVHC-Liste (Substances of Very High Concern / besonders besorgniserregende Stoffe) zählt nunmehr 224 Chemikalien, die REACH-Liste sogar über 1.000 Substanzen in 59 Kategorien und die POP-Liste nennt über 30 Substanzgruppen, von denen man in der Branche erwartet, dass es bald 200 Gruppen sein könnten. „Diese Listen werden jedes Jahr länger, für die dann immer mehr Entsorgungslösungen gefunden werden müssen. Analysen von gemischtem E-Schrott auf Gefährlichkeit sind in der Praxis so nicht mehr möglich“, stellte Slijkhuis fest. 

Erschwerend kommt hinzu, dass die Listen nicht harmonisiert sind. Das heißt, dass bestimmte Schadstoffe auf der einen oder anderen Liste gar nicht auftauchen oder unterschiedlich eingestuft werden. „Die Klassifizierung bedarf einheitlicher, harmonisierter Regeln. Wenn ich zum Beispiel einen 25-Jahre alten Fernseher habe, kann es natürlich durchaus sein, dass darin Substanzen wie bromierte Flammschutzmittel enthalten sind, die entweder als POP-Substanz oder einfach als besorgniserregenden Stoffe eingestuft werden können. Wir sollten daher einfach akzeptieren, dass alle Abfälle besorgniserregende Substanzen enthalten können“, plädierte Slijkhuis. Für das Aussortieren dieser Stoffe aus dem Materialmix gibt es ausgereifte Technologien. So könnten beispielsweise bromierte Flammhemmer in Kunststoffen von der Recyclingindustrie zu 98 Prozent herausgetrennt werden. Wie das geht, zeigt beispielsweise die SOFIES-Studie.

Slijkhuis: „Der Fehler liegt in der Denkweise!“

Die entscheidende Frage ist laut Slijkhuis, wo im Recyclingkreislauf die Messung der gefährlichen Substanzen erfolgen soll: „Ein Kreis hat die Eigenschaft, dass er keinen Anfang und kein Ende hat.  Natürlich muss an einer Stelle der Kreislaufwirtschaft festgestellt werden, welche Inhaltsstoffe im verwendeten Material vorhanden sind. Diese Überprüfung ist am sinnvollsten dort, wo das Material verwertet und wieder neu in den Kreislauf eingebracht wird. Man sollte an jenem Punkt im Kreislauf messen, wo das Material vom Abfall wieder zum Produkt wird. Also am Ende des Recyclingprozesses und nicht mittendrinn in einer der vielen einzelnen Stufen der Verwertungskette!“

Genau das ist laut Chris Slijkhuis des Pudels Kern, dass die handelnden Personen weltweit viel zu oft „linear denken, wenn es um einen Kreislauf geht. Das macht so aber keinen Sinn! Echte Kreislaufwirtschaft funktioniert nicht mit linearen Denkmustern!“

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Echte Kreislaufwirtschaft muss das Ziel unserer Gesellschaft sein, um nachhaltig zu wirtschaften und zu leben. Denn nur, wenn Materialien wieder in den Produktkreislauf gebracht werden können, wird der Green-Deal funktionieren.

Hinzu komme, dass Messungen im verunreinigten Input-Strom wesentlich schwieriger zu bewerkstelligen seien als im sauberen Output-Strom. Zumal damit zu rechnen sei, dass die Schadstoffbelastung zum Beispiel durch neue Flammhemmer, die erst im Nachhinein als schädlich erkannt werden, nicht abnehmen wird. Die ständigen Revisionen der REACH-, RoHS- und POP-Verordnung mit immer weiteren Grenzwertsenkungen hält Slijkhuis für einen großen Hemmschuh, wenn es darum geht, künftig mehr Material zu recyceln. Kapazitätserweiterungen und Technologieinvestitionen in der Recyclingbranche würden so ausgebremst. Und recycelte Kunststoffe, die bereits erfolgreich in Elektroneugeräten eingesetzt werden, könnten vom Markt genommen werden. Das wären klare Schritte zurück anstatt nach vorne.

Auf die Frage, wie realistisch es für Slijkhuis sei, dass sein Ansatz, die Überprüfung der verwendeten Materialien am Ende des Recyclingprozesses durchzuführen (dort wo der Abfall wieder zum Produkt wird), auch Gehör findet, beantwortet der holländische Visionär in Anspielung auf den IERC Honorary Award: „Irgendeiner muss ja einmal damit beginnen, mit der Kuhglocke zu läuten! Gesetze zu erlassen, die niemand umsetzen kann, macht keinen Sinn. Für echte Kreislaufwirtschaft müssen wir das lineare Denken auf Kreisläufe adaptieren!“

Administrativer Hemmschuh Notifizierungen: Langwierig, umständlich, teuer!  

Doch nicht nur grundphilosophische Denkmuster standen beim IERC-Vortrag von Chris Slijkhuis auf der Tagesordnung, sondern auch ganz praktische Herausforderungen wie das problematische Thema der notifizierungspflichtigen Abfalltransporte. Ein äußerst komplexer und zeitintensiver Vorgang, der bei den Kunststoffrecyclern von MGG-Polymers auch schon einmal vier Jahre dauerte und jedes Mal viele knifflige Fragen mit sich bringt: Wie unterscheide ich zwischen gefährlichen und nicht gefährlichen Fraktionen? Welche Codes muss ich benutzen? Noch dazu, wo jeder Code viel Spielraum für Interpretationen lässt. Das alles dauert in der Praxis viel zu lange und vor allem Verbringungen aus oder an Drittstaaten der EU sind de facto fast unmöglich geworden. Dazu kommt, dass die Notifizierungen enorme finanzielle Ressourcen benötigen. Derzeit sind schätzungsweise allein in der EU rund eine Milliarde Euro an Kapital in den für Notifizierungen notwendigen finanziellen Sicherheitsleistungen gebunden. Diese Komplexität der Verbringungsbürokratie begünstige daher den illegalen Handel mit wertvollen Abfällen. Denn ein korrekter Notifizierungsantrag mit Angaben zu Transportgut, Abfallerzeugern, Empfängern, Verwertungsanlagen, Transporteuren und vielem mehr füllt leicht einmal 50 Seiten. Diese Aufwände nehmen aber leider nicht alle Unternehmen auf sich.

Vorreiter Müller-Guttenbrunn Gruppe: Fast Track Notifizierungen!

Um die bürokratischen Hürden zu vereinfachen, hat die Müller-Guttenbrunn Gruppe mitgewirkt, Vorschläge zu erarbeiten, wie die Notifizierungsverfahren für EU-Abfallverbringungen an Verwertungsanlagen massiv verkürzt werden können. Ein Pilotprojekt schaffte eine sogenannte Fast-Track-Notifizierung schon in 19 Tagen. Chris Slijkhuis berichtet, wie es zur Idee der Fast-Track-Notifizierungen kam: „In der Zollwelt hatte man ein ähnliches Problem. Die Verzollungen wurden aufgrund zahlreicher Regelungen sehr komplex und irgendwann war es nicht mehr administrierbar. Deshalb entwickelten die Zollbehörden in den 90er Jahren eine Vereinfachung. Man hat kurzerhand definiert, wer als autorisierte Einrichtung (Authorized Economic Operator – kurz: AEO) gilt und diese auch entsprechend zertifiziert und auditiert. Diese AEOs dürfen Container beladen, verplomben und ohne weitere Überprüfung versenden. Und diese Container müssen nicht mehr kontrolliert werden, bis sie ihre Enddestinationen erreicht haben.“ 

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Seit vielen Jahren beschäftigt sich Slijkhuis mit dem Thema „Abfalltransporte“ und Notifizierungen und gilt in der Kunststoff-Recyclingbranche als richtungsweisender Visionär.

Eine Arbeitsgruppe aus Behörden, Firmen – darunter die Müller-Guttenbrunn Gruppe – und Verbänden erarbeitete Vorschläge für solch ein beschleunigtes Verfahren. Diese Vorschläge haben dazu beigetragen, dass in der neuen EU-Abfallverbringungsverordnung ein Passus aufgenommen wurde, der besagt, dass sich zukünftig Unternehmen in der gesamten EU als „vorabzugestimmte Verwertungsanlagen“ zertifizieren lassen können. Zusätzlich wurden elektronische Prozeduren eingeführt, die zu schnelleren Notifizierungsverfahren führen. Daher werden Notifizierungen an „vorabzugestimmte Anlagen“ oft als Fast-Track Notifizierungen bezeichnet.

In Österreich wurden die MGG-Firmen bereits vor vielen Jahren als „vorabzugestimmte Verwertungsanlagen“ anerkannt. Fast-Track-Notifizierungen vereinfachen die legalen Abfallverbringungen in Europa grundsätzlich. „Aber das gilt vorerst natürlich nur EU-intern“, nennt Slijkhuis den Pferdefuß dieses Konzepts. Möglich wäre allerdings, dass diese Vorgangsweise auch auf der OECD-Ebene eingeführt wird, denn das Konzept der Vorabzustimmung wurde grundsätzlich bereits in den OECD-Regeln aufgenommen. 

Die größten Herausforderungen gibt es noch bei den globalen Verbringungen. Als Mitglied der „StEP (Solving the E-Waste Problem) Initiative“ hat Chris Slijkhuis an einem Arbeitspapier mit dem Titel “Practical Experiences with the Basel Convention“ mitgewirkt. Die Ergebnisse dieser Arbeiten wurden bei der Basler COP (Conference of the Parties) 2022 vorgestellt. Ein Vorschlag dieses Papiers wäre eine Regelung, die besagt, dass Hafenstopps von Containerschiffen kein Transit sind und dass zuständige Behörden in Drittstaaten mit mehr personellen Ressourcen ausgestattet, eingeschult und befähigt werden, die Notifizierungsverfahren harmonisiert durchzuführen. Länder, die mit Notifizierungen wenig Erfahrung haben, sollten entsprechend geschult werden. „Vor allem aber brauchen wir dringend schnellere Prozeduren, wenn es um die Vorabzustimmungen geht. Diese Vorabzustimmungen sollten europaweit für gesetzeskonforme Behandlungseinrichtungen etabliert werden“, fordert Slijkhuis. 

„Leider werden die geplanten Verbesserungen noch Zeit in Anspruch nehmen. Wir sprechen hier von einigen Jahren. Die Verbesserungen und das Beschleunigen durch Vereinfachungen der Notifizierungsprozesse werden aber dringend benötigt. Wir brauchen unbedingt ein Umdenken von Linearität auf Zirkularität! Denn damit geht auch die Erkenntnis einher, dass Abfälle kein Problem darstellen, sondern eine Welt der Materialrückgewinnung öffnen“, blickt Chris Slijkhuis in die Zukunft.